Klaus Krupa

 geboren:

14.7.1935

 Adresse:

Am Volkspark 19      06886 Lutherstadt-Wittenberg/Piesteritz

 Telefon/Fax:

03491 / 63 14 87

 E-Mail:

info@klauskrupa.de

 

Biografie:

Geboren in Lutherstadt Wittenberg, Tischlerlehre, Lehrerstudium, Lehrer bis 1991. Seit 1963 Veröffentlichungen von Erzählungen und Lyrik. Seit 2003 Mitglied des Förderkreises der Schriftsteller. Lebt in Lutherstadt Wittenberg.

Bibliografie:

Viertmanns absonderliches Sterben, Roman, 2003, Halle, projekte-verlag 188
Karlchen oder Der verschlossene Tag, Roman, 2004, Halle, projekte-verlag 188
Geständnisse und andere Geschichten aus der großen Kiste, Erzählband, 2006, Halle, projekte-verlag 188, 2006
Einmal wär ich gern ein Baum, Roman, 2010, Halle, projekte-verlag
Warten auf Prinzeßchen, 7 Erzählungen, 2012, Halle, projekte-verlag

Beteiligung an Anthologien:

Rosa in: Morgens, mittags und abends Hafer, 2003, Walkertshofen, Gardeur-Verlag
Bude 99 in: Trockengebiete, 2009, Halle, projekte-verlag
Ankommen ist nicht alles in: Fundstücke – Mauern und Grenzen, 2009, Kiel, NordBuch

Außerdem Gedichte und Erzählungen in Zeitungen und Zeitschriften.

Arbeitsgebiete:

Prosa, Lyrik

Themenangebote:

Lesungen von Lyrik und Kurzerzählungen

Textprobe:

... Die Kunde von Erichs Schande trugen auch an diesem Tag die Eichelhäher lautstark und lachend vom Kiefernwald über die Schonung hinunter zum Dorf. Es war früher Abend. Erich saß am Waldrand auf einem Baumstumpf und störte stoisch mit einem kleinen trockenen Kiefernzweig eine Bahn der Waldameisen, die auf ihrer Straße Kiefernnadeln zu ihrem Hügel schleppten, was Erich ganz von der Nähe ansehen wollte, weshalb er zwei Emsen auf seine Hand hob und dabei den stechenden Schmerz ihres Bisses genoss.
Vor einer Woche, nachmittags, war Karlchen abgeholt worden. Eine Limousine war vorgefahren, ein Mann in Zivil mit großem, flachem Gesicht und eine Frau im weißen Kittel waren ausgestiegen und hatten ziemlich heftig an der verklemmten Tür gerüttelt. Die Mutter hatte, verkrampft vor Schreck, Erich geschickt, die Hoftür zu öffnen. Das war den ungebetenen Gästen aber nicht genug. Er musste das Tor öffnen, und so fuhr der Wagen zwischen das aufgescheuchte Hühnervolk. „Ist dein Bruder im Haus?“, hatte der Zivilist gefragt. Die Art, wie er das fragte, war eine gefährlich-explosive Mischung aus Herablassung und Schlag mit dem Stock, als hätte Erich etwas Verbotenes getan. Auf diese Art zu fragen hatte er keine Antwort, aber anscheinend hatten die drei auch keine erwartet, sie traten schon ins Haus.
Die „Amtspersonen“ ließen sich auf keine Diskussion ein, sondern wiesen die Mutter an, ein paar Sachen für Karl in einer Tasche zu verstauen, Hemd, Unterwäsche, von jedem eins, nicht mehr. „In einer Woche haben Sie ihn wieder zurück“, begründeten sie die Einschränkung.
Karlchen sah sie mit großen, erschrockenen Augen an, als er mitbekam, dass die ganze Aufregung seinetwegen war. Zu Beginn der Vorführung vor einer Woche bei einer Kommission im Beisein von Suchanek war er noch ahnungslos, ja arglos gewesen. Aber auf einmal war, was für ihn völlig ungewohnt war, nachdem zunächst in einem sehr kindhaften Ton Fragen an ihn gestellt und Aufgaben formuliert worden waren, mit ihm herumgeschrieen worden, er wurde gestoßen, und es hagelten Dutzende Fragen auf ihn ein, von denen er keine einzige beantworten konnte oder wollte. Karlchen begriff nichts. Es gab für ihn keine zweierlei Leben.
Die Mutter zupfte an der Kleidung des Bruders herum und schob ihn unsicher in Richtung Auto. Dann hielt sie inne und legte die Arme um ihn. War denn niemand da, der ihr heraushalf aus der Ratlosigkeit und Ohnmacht? Sie wurde immer mehr beherrscht von dem Gefühl, dass sie zum ersten Mal entscheidend als Mutter versagte ...
Ohne ein Herz, das alle Kreatur und Dinge durchdringt, und ohne einen Verstand, mit der Freiheit zu jeglicher Hinwendung und Umkehr, ist Leben nicht möglich.
Schuld und Versagen reichen weit hinein in die Zeiten, und sei auch nur eine Ranke von dem Schlingenkraut übrig geblieben. Wie sollte man das Rankenwerk zerschlagen, das sich um das Leben gebildet hatte? Kurz vor der Geschichte mit der Ausstellung, die das Verhängnis für Karlchen und Erich einleitete, hatten die Schulkameraden hinter dem Dorfteich mit einer Selbstgedrehten auch Erich zum Rauchen verführt. Er hatte gepafft, die Nachmittagsstille zerhustet, sich gekrümmt, wieder probiert und die Hälfte weggeworfen. Am nächsten Tag verlief der Akt, an den sie während der gesamten Schulstunden dachten, schon reibungsloser, und am dritten wurde denen, die durchhielten, beigebracht, wie man sich aus trockenen krümeligen Tabaksresten eine Zigarette drehte.
Und dann hatte er es „weg“, wie man so sagt. Und da die Großmutter fast alles duldete und Mutter ganz selten in die Stube kam, paffte er dort drinnen seine „Tüte“, und Karlchen sah interessiert zu. Was auffiel. Da drehte ihm Erich aus Jux auch eine Zigarette, und nach ein paar Hustenstößen und Demonstrationen von Erich, wie inhaliert wird, hatte Karlchen den Vorgang begriffen und sog genüsslich an der Zigarette.
Nun verlangte Karlchen, wenn Erich aus der Schule kam, nach einer Zigarette. Der Speichel lief ihm in Streifen aus dem Mund, und er lallte: „Erich Zigett, will Zigett!“ Und Erich wurde der erwachenden Gier nicht mehr Herr. Dann war Karlchen unvorsichtig. Er rauchte, bis die Glut an seine Lippen kam, und ließ die glühende Kippe ohne Rücksicht fallen. Erich wollte einen radikalen Schnitt machen und verweigerte den Nachschub, der ihn ja auch einiges „kostete“ aus Mutters Speisekammer. Karlchen wollte das nicht einsehen und rief unverständlich nach seiner Zigett. Erich war wirklich in Nöten.
Dann aber kam das Auto auf den Hof, aus dem die Männer ausstiegen, die Karlchen mitnehmen wollten, der sich wehrte. Da er einen von ihnen rauchen sah, rief er sein „Zigett! Zigett!“ und zeigte auf den Rauchenden. Der Lange, der Karlchen wegführen wollte, begriff, lachte lauthals, schlug sich mit den Lederhandschuhen an die Schenkel und rief: „Sigi, rück doch mal ’ne Zigarette raus. Ich glaub, der Kerl will eine rauchen. Das ist ja ein Ding!“ Die Mutter sah sprachlos zu, wie Karlchen gierig paffte und nun folgsam, unter dem Gelächter, in den Wagen stieg.
„Hast du ihm das beigebracht?“, fragte sie wenig später unter Tränen ihren verbliebenen Sohn, und dieser rannte vor Scham vom Hof und schlich erst beim Dunkelwerden wieder ins Haus.
Erich hatte dann bald gewusst: Sie hätten Karlchen auch ohne diesen Trick mitgenommen, wenn nicht so, dann mit Gewalt. Aber die hätten nicht auch noch ihren Spaß dabei gehabt, dass sie sich auf die Schenkel schlugen und rot im Gesicht geworden waren und riefen, dass sie nun nicht mehr könnten vor Lachen. Und dass es so war, dass er den hilflosen Bruder dadurch, dass er sich selbst hatte täuschen lassen, bewegt hatte, in das mystisch-verhängnisvolle Gefährt einzusteigen, vor dem dieser wahrscheinlich die von ihm ausgehende Gefahr gespürt hatte, das verursachte ihm noch nach so langer Zeit Schmerz. Den seltsamen Schmerz, den man verspürt, wenn man zu einem Verräter geworden war an einer unwiederbringlichen Liebe. Genau das wurde ihm bewusst in den späten Jahren. Er hatte seinen Bruder geliebt.

Aus „Karlchen oder Der verschlossene Tag“

 

Ja, wohin wollten sie, warum marschierten sie ausgerechnet diesen Weg zum Damm in Richtung Camp der Bauleute? Ganz instinktiv, ohne Verabredung, in stiller Übereinkunft waren sie in Richtung ihrer Stelle, der Roßlache hinter dem Damm gegangen. Na klar doch! War doch eigentlich logisch, oder etwa nicht?
„Also nicht zum Camp der portugiesischen Bauarbeiter, sondern zu Ihrer sogenannten Oase wollten Sie?“, fragte später in der Verhandlung der Anwalt der Nebenklage.
„Aber Sie wußten doch, daß dieser Platz mit den Weiden und dem kleinen Tümpel gar nicht mehr existierte. Dort befand sich jetzt ein Teil des Camps der portugiesischen Bauarbeiter, das hatten Sie doch schon an anderer Stelle geschildert“, mischte sich der Staatsanwalt ein.
„Wir wären vorher abgebogen, denke ich mal, das Camp, die Kanaken dort haben uns überhaupt nicht interessiert“, verteidigte sich Marcel.
Der Richter rügte ihn wegen des diskriminierenden Ausdrucks gegenüber ausländischen Bürgern, belegte ihn mit einer Geldstrafe und forderte ihn auf, ihren weiteren Weg und das folgende Geschehen zu schildern.
„Ich kann mich nicht mehr erinnern“, erklärte Marcel. „Ich war zu besoffen.“
Wieder rügte der Richter die Ausdrucksweise ...

Damals trieb Marcel die Gruppe an: „Los weiter, und: Haut ’se ... immer in die Schnauze rin.“ Sie hörten nicht auf damit, es war keine noch so primitive Melodie mehr zu erkennen, es war zu einem marsch-rhythmischen Geschrei geworden.
Micha war erst im Laufschritt hinter den anderen her gerannt, kam sich aber vor Pia albern vor und forderte sie zum Warten auf.
Sie verließen die Gartenanlage, unangefochten, herausfordernd um sich blickend mit glasigen Augen und gingen noch ein ganzes Stück am Damm entlang in Richtung Durchstich.

Pia hatte ihnen nicht nachgeblickt. Aus und vorbei, wie schnell so etwas geht.
Um sie abzulenken, forderte Oma Regina sie auf, ihre Arbeit zu beginnen. Dazu müßte Pia eine flache Hacke durch die Salatreihen ziehen oder sich tief bücken und kleine unnütze Pflanzen aus der Erde rupfen, die angeblich ein Unkraut, Nichtkraut waren. Sie schaute zu ihrer Großmutter hin und beobachtete ihr Gesicht. Sie wird nicht lange schweigen, dachte sie, es zerreißt sie förmlich.
Sie nahm das Gebrüll der Truppe um Micha auf einmal nicht mehr wahr. Eine erlösende Stille.
„Du träumst! Oder weinst du?“, rief Oma Regina und setzte im sachlichen Ton hinzu: „Was musst du auch so abweisend sein! Das hat kein Mann gern!“
Pia fragte sie etwas genervt: „Was verstehst du davon?“
Oma Regina, eine ansehnliche Mittfünfzigerin, war überhaupt nicht beleidigt, sie antwortete: „Ich hab nie etwas dazu gesagt, hab gesehen und gefühlt, hab mir gedacht, soll sie ihre Erfahrungen machen. Schlagen heute ein wenig über die Stränge, die Burschen. Das Beste ist dann: Nicht aufregen. Wer so herumschreit, ist harmlos. So etwas ist wie ein Stein in einem Schuh. Der Schuh passt, aber der Stein reibt. Schüttest ihn einfach aus, weiter geht’s und morgen ist alles vergessen.“ „Ach Oma, wie du daherredest!“, wunderte sich Pia. „Der Schuh passt eben nicht!“, setzte sie hinzu.
„Weißt du, mein Kind, ich hab es auch erfahren. Wer liebesfähig ist, ist auch fähig zu leiden. Also leid’ ein wenig. Hilf mir noch, dann fahren wir nach Hause und machen uns einen schönen Abend.“
Pia aber entschied diesmal für sich: „Für heute reicht es mir. Ich fahre jetzt nach Hause. Hier gibt es doch überhaupt nichts zu jäten!“ Denn sie war nach wie vor in nicht ganz frei von Unruhe. Sie wollte Michael Bergner an diesem Tag nicht wieder begegnen, wenn er zurückkehrt. Eigentlich nie wieder begegnen, dachte sie gekränkt.
Sie überblickte den Garten, auf dessen Mittelweg sie stand und lächelte. Er war mit seinen schnurgeraden und gezirkelten Beeten, in dem es nichts Zufälliges gab und der in seiner Makellosigkeit geradezu schockierend wirkte, hier war „Unkraut“ ein Fremdwort; schon das Keimblatt wurde getilgt, ein Spiegelbild der Großmutter. Was konnte man noch wissen, wenn man so geworden ist; dachte sie und wußte, dass sie ungerecht war. Wer liebesfähig ist, der ist auch fähig zu leiden! Ach Oma Regina, der kann nicht leiden! Und sie blickte über den Garten hinaus und lauschte. Nichts war zu hören, und sie verließ die Anlage. Sie wollte gerade ihr Fahrrad besteigen, da kam ein Knirps mit einem Fahrrad angesaust, fuhr sie beinahe um, sprang neben Pia vom Rad und rief: „Da hinten ist vielleicht was los, da wollen welche einen Mann verdreschen! Komm mit!“ Augenblicklich waren die vorhergehenden Erwägungen halb vergessen und sie folgte dem Jungen. Sie war sich sicher, daß sie, wie so oft, Michael, wenn er in Schwierigkeiten geraten war, zur Vernunft bringen kann, vielleicht auch diesmal. Sie befürchtete, wie sie bei der zweiten Vernehmung sagte, daß die „aufgeputschte, alkoholisierte Truppe“ jemanden provoziert und dass dies schlimm enden könnte und war in ihren Gefühlen hin- und hergerisssen. Sie meinte sich hineingezogen in dieses Geschehen, weil sie in der Lage wäre, zu mindern oder zu verhindern. Sie rief in den Garten hinein und forderte noch ein Mädchen aus dem Nachbargarten auf, mitzukommen. Aber es schloss sich ihr niemand an. Der Spuk vor wenigen Minuten war eine schnell vergessene Episode.

Wenige Meter vor dem Durchstich, nach einer Biegung des Dammes, in unmittelbarer Nähe des ausgedienten Trafohäuschens, standen sie plötzlich dem sichtlich erstaunten Matias gegenüber.
Und sie sahen sofort, dass es einer von den portugiesischen Bauarbeitern war, der wenige Schritte von ihnen entfernt stehen geblieben war.
„Ja, was haben wir denn da?“, fragte Freund Blase mehr rhetorisch und versperrte, Paul Johannes am Arm haltend und aus der rechten Hand den Bierkasten auf die Erde vor die Füße des Portugiesen gleiten lassend, diesem den Weg.

Aus „Viertmanns absonderliches Sterben“